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BILDER FINDEN, TRÄUME DENKEN
ZU FOTOARBEITEN VON PETER SCHLÖR

von Dr. Andreas Vowinckel, Badischer Kunstverein, Karlsruhe

Ein wesentliches Moment der Fotografie besteht darin, eine reale Gegebenheit im Augenblick der Ablichtung auf lichtempfindlichem Träger festzuhalten. Es wird ein Bild von diesem Umstand erzeugt, das die Erinnerung an eine Wahrnehmung wach hält, die gelebte Wirklichkeit beinhaltet. Sie ist an eine bestimmte Zeit und an den Ort/Raum gebunden, wo der Fotograf motiviert wurde zu handeln und einzugreifen.

Im so geschaffenen Bild verdichtet es den gelebten Augenblick zu einem Dokument von ZEIT. Diese gewinnt für uns in mehrfacher Hinsicht an Bedeutung. Zwischen dem statisch geprägten fotografischen Bild als Abbild und Ausschnitt einer Realität und dem Phänomen ZEIT, die in Bezug auf den Menschen, seine begrenzte Lebenszeit, ununterbrochen dynamisch fortschreitet, wird ein Widerspruch manifest. Er verdeutlicht an der Schnittstelle im Fluss der Zeit reale Gegenwart, die beliebig herausgegriffen schon als Vergangenheit definiert wird. Wir erfahren sie in einem übertragenen Verständnis als Geschichte und Kultur unserer Existenz, aus der wir unsere Identität beziehen.

ZEIT wird zugleich für jeden individuell in unterschiedlichen Zusammenhängen erfassbar Sie ist Teil eines subjektiven Erlebens. In einer Kette von Erfahrungen verdichtet sie sich zu der Erinnerung, deren Bilder aus dem Unterbewusstsein unsere Wahrnehmung, Denken und Handeln beeinflussen und prägen. Erst mit der Erfindung der Fotografie tritt ZEIT als eine autonome und existentielle Dimension unseres Seins in das allgemeine Bewusstsein. Mit ihr entdecken wir im fotografisch festgehaltenen Abbild eine Realität als Zustand. Im fixierten, verdinglichten Augenblick einer Lebenszeit als Ausschnitt einer an die Wahrnehmung gebundenen Wirklichkeit wird ein weiteres Phänomen sichtbar: Distanz.

Als vernunftbegabte, denkende und wahrnehmende Wesen erfahren wir Distanz existentiell als Entfremdung. Diese äußert sich in unserem Selbstverständnis, in den zwischenmenschlichen Beziehungen und dem sozialen Verhalten ebenso wie in bezug zu der uns umgebenden Natur und den Dingen, mit denen wir umgehen, um uns gegen die Kräfte der Natur zu behaupten und durchzusetzen.

Die Geschichte der Fotografie demonstriert am Beispiel der konsequent fortentwickelten technischen Hilfsmittel die Wege und Möglichkeiten, mit denen der Mensch versucht, das Problem der Distanz, philosophisch gesehen, den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu bewältigen, zu lösen und schließlich zu überwinden. Im Vordergrund steht hierbei der Glaube an das Bild, wie es in der Tradition der europäischen Kunst- und Kulturgeschichte am Beispiel von religiösen Themen, Genredarstellungen, Landschaften, Stilleben, Porträts usw. als Sinnbild, Metapher und/oder Symbol für eine immanent formulierte Aussage überliefert wurde. Sie haben historisch konform in dem beschreibenden, die Natur nachahmenden, mimetischen Abbild einer vorgefundenen und für ihre Zwecke geeigneten Wirklichkeit, die beispielhaft zitiert wird, ihre angemessene Form gefunden.

Folgerichtig wurden die technischen Möglichkeiten, die das fotografische Medium erschlossen hat, weitgehend auf eine vordergründige Perfektionierung des Aspektes der Selbstähnlichkeit der Erscheinungen im Spiegel der Realität und seinem fotografischen Abbild beschränkt. Dahinter offenbart sich der naive Glaube, mit ihrer Hilfe die Spuren vergessen zu machen und zu verwischen, denen das fotografisch hergestellte Bild als scheinbar authentisches und exaktes Abbild der Natur seine künstliche Entstehung verdankt. Schließlich ging es in Verbindung mit der Entwicklung der Fotografie im 19. Jahrhundert ja auch darum, das Wirkliche der Natur als das Wahre ihrer realen Gegebenheit und Erscheinung anschaulich zu machen, um mit ihr den ideellen, subjektiv geprägten Gehalt der Malerei in ihrer Ungenauigkeit der Darstellung der Natur bloßzulegen. Seit der Entwicklung des Computers und mit ihm der digitalen Bildtechniken der Simulation von Wirklichkeitsfakten, kann und wird in das fotografische Bild in seinem ursprünglichen und immanenten Anspruch auf Authentizität eingegriffen, dieses veränder- und manipulierbar Damit wird nicht nur die Glaubwürdigkeit der Fotografie als authentisches Abbild einer Realität zu Fall gebracht, sondern das Problem der Distanz am Beispiel von Sein und Schein, Realität und Illusion, Wirklichkeit und Simulation in seiner eigentlichen Tragweite und existentiellen Bedeutung offengelegt.

Vor dem Hintergrund dieser knapp skizzierten Gedanken verdient die fotografische Arbeit eines Künstlers Aufmerksamkeit, der versucht, dieser selbstverschuldeten Eindimensionalität entgegenzuwirken, mit der das fotografische Medium bis weit ins 20. Jahrhundert auf die Selbstverständlichkeit des Realen reduziert und darin ihre Sinn- und Zweckbestimmung instrumentalisiert wurde.

Peter Schlör beschränkt sich in seinen Arbeiten auf den klassischen Bromsilberabzug einer Schwarzweiß-Fotografie. Er verzichtet bewusst auf die umfangreichen technischen Hilfsmittel, die heute jedem zugänglich sind, um in gewisser Hinsicht dort wieder anzusetzen, wo die Fotografie als Bildmedium und Gattung einer neuen Kunstausübung ihren Ausgang genommen hat: Die Arbeit und den ursächlichen Umgang mit Licht und Schatten als kompositorischen Elementen der Bildgestaltung.

Das fotografische Bild verdankt sich, wie unser Sehen, dem Licht. Erst mit seiner Hilfe wird das sichtbar, was unser menschliches Auge wahrnimmt und das Auge/Objektiv der Kamera auf dem lichtempfindlichen Film festhält.

Peter Schlör geht in diesem Zusammenhang auf die Suche nach Bildern, die er nicht absichtsvoll wählt, erforscht oder arrangiert. Seine bildnerische und damit künstlerische Neugier ist auf das Bild davor gerichtet, jenes Bild, das weder er noch wir bewusst sehen, kennen oder wissen. Er bezieht den Zufall als kreatives Moment in seine Bildfindungen mit ein. Er begreift sich selbst, sein Sehen, seine Wahrnehmung vor dem Hintergrund seiner individuellen Erziehung und geistigen Entwicklung als Resonanzboden für die Bilder, die er aus spontanem Impetus erkennt und für seine Zwecke verwendet. Sie zeigen vor allem Spuren, die Menschen in der Natur, in Landschaften hinterlassen, Architekturen, Eingriffe und Veränderungen. In schaden Hell/Dunkel-Kontrasten steigert er ihre formalen Merkmale zu archetypischen Symbolen von eindringlicher Intensität. Er bindet die realen Gegebenheiten, die ihm Anlass für eine Bildfindung sind, in Kontexte ein, die ihnen ursächlich zu widersprechen scheinen. Tag und Nacht, Tageslicht und Nacht/Dunkel-Werte verlieren ihre vordergründige inhaltliche Wertigkeit und Bedeutung. Die von Tageslicht modulierten Landschaften, wie z. B. in Grabungen I, II‘ (1989), gewinnen vor nachtschwarzem, in der Dunkelkammer manipuliertem Horizont eine unwirkliche, weil zeitlose Dimension. Die schwarzen Löcher der Grabungsfelder in einer lichtüberfluteten Landschaft werden wechselseitig in einen Zustand der Erstarrung gebunden. Die Distanz zum Realen einer genau festgehaltenen und dokumentierten Gegebenheit evoziert Assoziationen des Unterbewussten, die Traumbilder, Albträume einer existentiellen Isolation, ausweglosen Einsamkeit und menschlichen Kälte abgestorbener Empfindungen in uns wachrufen, wie sie vielleicht Gustave Doré in seinen Illustrationen zu Dantes Göttlicher Komödie zuletzt mit dieser Eindringlichkeit gezeigt hat.

In Zelte(Zelte 1990) (1990) enthüllt das in Feldern, Pyramiden zufällig gefaltete und ausgebreitete Tuch vor schwarzem Horizont die Landschaft einer fremden künstlichen Welt, Flugzeugfallenbilder in einer freien Paraphrase auf die spätsurrealistischen Bilderwelten von Max Ernst, der wir in ihrer irrationalen Logik zwangsläufig ausgeliefert scheinen.

Peter Schlör setzt der flüchtigen, oberflächlichen Wahrnehmung Bilder jenseits des Kontextes ihrer von ihm entdeckten und vorgefundenen Gegebenheiten entgegen, die Zeit und Raum nach anderen, abstrakten Maßstäben eine Zuständlichkeit im Denken, eine Idee von existentieller Tragweite zugleich als retardierende Momente des Sehens verkörpern. Sie verlangen vom Betrachter Ruhe und Kontemplation. Sie öffnen einen Blick in eine Innenwelt der Außenwelt, mit denen Peter Schlör Fragen an sich selbst ebenso offen legt, wie ihre rätselhafte Erscheinung dem Betrachter innere Bilder abverlangen, die er vorher nicht gesehen, denen er sich vielleicht verweigert hat oder die er verdrängt.

Fotografie heißt für Peter Schlör ihr die Authentizität im Bild dort zurückzugeben, wo sich das Denken, Wahrnehmen, Fühlen, Erinnern als Ausdruck eines ästhetischen Wollens manifestiert. Die in der Realität vorgefundene Gegebenheit wird von ihm in ihrer formalen Struktur erfasst und in dem fotografischen Bild in seiner autonomen Qualität als Ausdruckszeichen von formaler Strenge der kontrastierenden Licht- und Schattenzonen kompositorisch verdichtet. Damit leistet er einen wichtigen Beitrag, mit dem er die Fotografie aus ihrer zwanghaften Bindung an die Selbstähnlichkeit mit der Realität der Außenwelt befreit. Er öffnet ihr Bereiche des Sehens und Denkens, die dem visuellen, philosophischen Diskurs entspricht.

Andreas Vowinckel | Karlsruhe im März 1993

Textbeitrag zur Monographie AUFBRUCH