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Die Stadt auf dem Berge
El Grecos Ansicht von Toledo und Peter Schlörs Mistretta

von Dr. Daniel Spanke, Kunstmuseum Stuttgart

Die Stadt auf dem Berge ist dem Himmel scheinbar immer ein Stück näher. Sie bleibt den Menschen nicht verborgen und ihr Licht leuchtet weithin. Natürlich hatte es vor allem strategische Gründe, eine Stadt auf einem Berg zu bauen, doch kann ihr Anblick zum Symbol von geradezu religiöser Intensität werden: das Irdische bestürmt das Höchste.

Toledo
Als El Greco kurz nach 1600 die _Ansicht von Toledo_(El Greco — Ansicht von Toledo) malte, war die Stadt zwar seit 40 Jahren nicht mehr königliche Hauptstadt, Philipp II. verlegte sie nach Madrid, doch bis heute Sitz des Primas von Spanien, des ranghöchsten Bischofs der spanischen Kirche. 1577 kam El Greco, „der Grieche“, aus Rom in die Stadt hoch über dem Tejo und malte hier bis zu seinem Tode 1614 im Auftrag der Kirche und des Hochadels. Auf seiner Ansicht von Toledo ist von der Stadt gar nicht so viel zu sehen. Am rechten Rand erhebt sich das Schloss auf dem höchsten Punkt des Berges, übertroffen allein von der Spitze des tiefer gelegenen, aber hoch aufragenden Turms der Kathedrale. El Greco gibt uns eher eine Stadtsilhouette, denn eine Ansicht der gesamten Stadt. Bis hinunter zum Fluss, dessen Querung Toledo durch eine turmbewehrte Brücke beherrscht, zieht sich nur eine Reihe von Gebäuden, Wehrbauten, Stadtmauern, Türmen, die halb von den Hügeln verdeckt werden. Die eigentliche Stadt mit ihrem Weichbild müsste sich rechts hin anschließen. Der Maler präsentiert in dem leicht hochformatigen Bild Toledo wie ein Kronenband des Berges: Die Gebäudekette markiert den höchsten Verlauf des Stadthügels, der gegen eine entfernte, aber nahezu mittige Erhebung steht. In kunstvoller Verschränkung der Höhen bettet der Künstler diesen Hügel in die Landschaft Kastiliens ein. Dramatisch verengt sich diese Landschaft in zwei gegenläufigen Schwüngen einmal auf die Brücke über den Fluss zu, um sich dann zu ihrem spannungsreichen Höhepunkt auf dem Hügel, dem Konzert von hochgelegenem Palastblock und wenig höher ragender Kathedralnadel, aufzuschwingen, der seinerseits von einer stiebenden Wolkengloriole im düsteren Dunkelkranz überhöht ist.

Als dramatisch wird die ganze Komposition der Stadtansicht erlebt und dramatisch ist die Stimmung, mit der Toledo im zerrissenen Hell-Dunkel eines Gewitters aufleuchtet. Und dramatisch bedeutet, dass die Gegebenheiten nicht in der Sicherheit ihres bloßen Vorhandenseins ruhen dürfen, sondern stets kontrastiert sind: der mächtige Palast durch den filigranen Kathedralturm, der Stadthügel am rechten Rand durch den fast unbebauten Hügel in der Bildmitte, die aufsteigende Linie der Stadtbefestigung durch ein gegenüberstehendes vieltürmiges einzelnes Kastell, das Schwarz der Gewitterwolken durch die grell-hellen Konturen der Gebäude und durch helle Wolken gleichzeitig. Dieses Kontrastieren bewirkt eine ständige Konkurrenz der Bildelemente untereinander. Das Leuchten in den Wolken und die Schwärze des Gewitters scheinen sich kämpfend ausschließen zu wollen. Geradezu ein Stück ungegenständlicher expressiver Malerei hat El Greco hier in diesem Bildhimmel verwirklicht. Die hellen Kanten und Konturen der Gebäude umschließen schwarze Fenster und Tore und man kann nicht sicher sein, ob die Szenerie nicht gleich blitzartig ganz verschwindet – so körperlos und geisterhaft erscheint die festgegründete, ruhmreiche Stadt Toledo. Der eigentliche Bildheld ist jedoch dieser Himmel mit seinen Erscheinungen. Von ihm scheint Weh und Wohl der Stadt und der Erde abzuhängen. Er kündigt Weltuntergang und den Glanz des neuen Lebens an.

Wohl jeder kennt den apokalyptischen Schauer, den die Urgewalt eines Gewitters mit sich bringen kann, weil man das irrationale Gefühl nicht los wird, es könne einen selbst meinen: „wegen mir wütet der Himmel, ich soll vernichtet werden“. In El Grecos Bild sind Triumph und Todesdrohung so sehr ineinander verwoben, wie es vielleicht typisch ist für das Lebensgefühl des mit El Greco heraufdämmernden Barocks. Der Mensch erlebt die Großartigkeit des Lebens stets als einen vom Tode bedrohten Abglanz des Himmels.

und Mistretta
Anders als Toledo ist Mistretta eine eher bescheidene, kleine Landkommune, nicht allzu weit von der Provinzhauptstadt Messina und durchaus malerisch an der Nordküste Siziliens gelegen. Fast 400 Jahre nach El Greco reist Peter Schlör mit seinem „Bildauge“, der Kamera, durch Landschaften, und nimmt auf, was ihm reizvoll und bildwürdig erscheint – so auch _Mistretta_(Mistretta 2002). Die Motivation, ein Bild zu machen, hat sich also stark verändert: Hatte eine Ansicht von Toledo für El Greco eine gewisse Zwangsläufigkeit, auch sein eigenes Leben von genau diesem Himmel abhängig zu wissen, so ist Mistretta nicht Peter Schlörs Stadt, sondern ein Motiv, das der Mannheimer sich allerdings frei und nach künstlerischen Gesichtspunkten selbst sucht.

Diese freieren Verhältnisse des Künstlers schlagen sich in seinem Bilde in einem distanzierten Blick nieder. Zwar befindet sich der Standort des Sehens innerhalb der sich bis zum unteren Rand erstreckenden Stadt, doch Schlör schafft zugleich einen schier unüberbrückbaren Abstand, indem dieser Ort über den in tiefes Dunkel getauchten Dächern der sich unter uns herschiebenden Häusern zu schweben scheint. Zudem reduziert er das eigentliche Bild der Stadt auf ein schmales Band, das er durch die besondere Wahl der Tageszeit hervortreten lässt: nur der höchste Grat der Stadt ist in helles Sonnenlicht gehoben, dahinter steht unvermittelt eine tiefschwarze Hügelkette und nach vorne bricht der helle Stadtstreifen ebenso plötzlich in den Abgrund der tiefen Dachlandschaft ab. Jener unterste Streifen, über dem sich das Auge zu befinden scheint, bietet kompositorisch mit der Ausrichtung der Dächer auf die Mitte und Tiefe des Bildes einen Einstieg in das Bild hinein. Doch ein zweiter Streifen mit blockartig entgegenstehenden Häusern grenzt die helle Stadtsilhouette dahinter wiederum rigoros nach vorn ab, dazwischen ist undurchdringliche Schwärze: es gibt durch die Stadt keinen imaginären Weg dorthin.

Während El Greco den Blick auf die Ansicht von Toledo in Schrägen kreuz und quer über das Bild führt, wählt Peter Schlör einen horizontal streng geschichteten Aufbau seines Bildes. Hatte der barocke Meister schon durch das leichte Hochformat eine Zusammendrängung des Stadtbildes zu einem höchst dramatischen und unwirklich erscheinenden Ausschnitt mit geradezu nervösem „Faltenwurf“ der Blicklinie erreicht, so breitet Peter Schlör sein Stadtpanorama in größter Ruhe, ja Stille aus. Die kompositorischen Entgegensetzungen führen in El Grecos Malerei eher zu einem Auseinanderdriften der Bildelemente. Diese Zentrifugalkräfte relativieren zugleich das Bildsubjekt, das sich nicht sammeln kann, sondern ständig erneut umhergeschickt wird. Zwar ist auch Peter Schlörs Fotografie von starken Kontrasten, vor allem einem eindrucksvollen Hell-Dunkel, geprägt. Von tiefstem Schwarz in größeren Quantitäten bis zu sparsam gesetztem hellstem Weiß reicht seine Palette. Doch gerade die Unbegehbarkeit der Schichtenkomposition seiner Stadtansicht von Mistretta fokussiert das Bildsubjekt in hohem Maße. Das Betrachterauge kann sich mit dem Kameraauge gleichsetzen. Gerade weil der Blickstandpunkt örtlich im Bild nicht zu klären ist, ist der Blick in die Ferne, auf die Silhouette der Stadt, die Schlör uns als Sonnenstreif gewährt, konzentriert. Der Himmel ist hier nicht Bildheld, sondern seine dezente Wolkenformation betont formal das Kastell auf dem Berg als linkes Gewicht zur hellsten Stelle eines Blockbaus im Sattel der hellen Stadtsilhouette rechts.

Bei Peter Schlör ist die Komposition ein Mittel der Bildabstraktion: im Bild werden Land und Stadt zu einem ästhetischen Phänomen, das sich uns darbietet. Dieser ästhetische Blick kennzeichnet immer schon „Landschaft“, auch „Stadtlandschaft“, als ein Kulturphänomen des Bildblicks – wer vom Land oder in der Stadt lebt, sieht sie noch nicht ästhetisch – doch erst in der Moderne setzt sich dieser Blick und mit ihm das blickende Subjekt vollends souverän. Aus Reisenden, die unter Mühsal von einem Ort zum anderen kommen müssen, werden Touristen, die auf ihrer Tour das Fremde um des Erlebnisses willen aufsuchen – und sie, die Touristen, machen seitdem die Bilder, und nicht mehr die Involvierten, die Bewohner.

Im Zeitalter der entwickelten Digitalfotografie stellt schon Peter Schlörs Entscheidung für das Schwarz-Weiß-Bild weniger eine Reminiszenz an klassische Anfangszeiten dar, als vielmehr eine Wahl für die Abstraktion und damit ein Akt der Selbständigkeit. Der Künstler führt diese Souveränität über die zum Bild gewordene Ansicht zudem noch einmal exemplarisch vor, indem er das Bild in einen etwas dickeren und größeren weißen Objektrahmen einschließt, und einen zweiten gleichen daneben hängt. Dieser lässt an entsprechender Stelle nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Stadtpanorama frei. Schon in der Gesamtansicht arbeitet Schlör durch die Beleuchtung, die nur einen schmalen Streifen Stadt zum eigentlich sichtbaren Stadtbild macht, mit einem Ausschnitt. Dieses Konzept wird in der Doppelung noch einmal als künstlerische Maßnahme betont. Über die Distanz der weißen Fläche hinweg vergleicht man nun diese kleine, markante Häuseransammlung mit der Gesamtansicht. Auch dieses Bildchen ist eine vollgültige Komposition. Gerade im Medium der Fotografie wird durch diese Wiederholung das Bild als eine Art „Fenster in der Wand“ in Frage gestellt – es ist vielmehr verfügbar, hergestellt und nicht naturgegeben.

Auch in Schlörs Mistretta ist die Bildwelt ständig bedroht: der Sonnenstreifen ist ein vorübergehendes Lichtphänomen und ist durchsetzt von tiefschwarzen Schatten. Die Schwärze des Bildes, gleichsam das Nicht-Bild, ist wie der stets lauernde Tod. Doch anders als El Grecos Gemälde, das einen schon barocken Grundzweifel am Bestand allen Irdischen formuliert, begegnet das spätmoderne Bild Peter Schlörs als Bewältigungsformel für die Flüchtigkeit der Welt.

Daniel Spanke | 2006